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150220 Clemens Ersnting Kluge by Siliva Reimann(Text: Jürgen Bröker, www.broeker-text.de/ Fotos Dortmund: Silvia Reimann, www.silvia-reimann.de; Foto Sevilla: Carsten Oberhagemann) Nach einem Motorradunfall stand der BRC-Athlet Clemens Ernsting bereits vor dem Karriere-Aus. Doch er kam zurück und kämpft nun um die Olympiateilnahme.

150310 Clemens Ernsting Rudergeschichte 12 02 2Der Himmel spiegelt sich an diesem Mittag grau im Wasser des Dortmund-Ems-Kanals. Keine Spur von der Sonne. Ein kleiner Industriekahn tuckert am Steg vor dem Bootshaus des Bundesstützpunktes der Riemenruderer in Dortmund vorbei. Wasser und dünne Eisplatten wirbeln hinter seinem Heck auf. "Da können wir heute nicht raus. Zu kalt, zu gefährlich", sagt Clemens Ernsting und blickt auf die trüben Wellen. Wenn man rudert, sieht man das Eis nicht. Es könnte Boot oder Ruderblätter beschädigen. Also heißt es Gymnastikraum statt Kanal. Theraband statt Ruderblatt.

Ernsting und seinem Zweier-Kollegen Peter Kluge kommt das nicht ungelegen. "Wir haben am Morgen schon eine intensive Ergobelastung durchgeprügelt", sagt Kluge. Zwei Mal sechs Kilometer am Ruderergometer. Mit Blick auf den Kanal und ständigem Wechsel der Schlagfrequenz, bis die Beine und die Lunge brennen. Alles für das große Ziel: einen Platz im Deutschland-Achter und die Teilnahme an den Olympischen Spielen 2016.

Die ersten Rennen für die Boote des Deutschen Ruderverbands (DRV) stehen zwar erst in etlichen Wochen an. Aber die Basis für mögliche Erfolge wird in den Monaten zuvor gelegt. "Wer im Rudersport erfolgreich sein will, der muss vor allem Umfänge trainieren", sagt Ernsting. In den vergangenen Jahren hat der 23-Jährige einige davon verpasst, obwohl er schon öfter an der Schwelle zum A-Kader stand.

2010 aber hätte seine Karriere an den Riemen beinahe ganz geendet. Damals war Ernsting gemeinsam mit seinem Bruder auf dem Motorrad unterwegs. Es war ein Samstag. Er saß auf dem Soziussitz. Die beiden wollten ihre Eltern besuchen. Alles, was Ernsting über diesen Tag weiß, kennt er nur aus Erzählungen. Eine Landstraße, keine gute Sicht, ein Auto, das aus einer Seitenstraße kommt. Das Motorrad schepperte in die Seite des Autos. Ernsting und sein Bruder flogen über das Dach. Ernsting wachte im Krankenhaus auf. Die Erinnerung kehrte sogar erst eine Woche später zurück. "Anterograde Amnesie" sagen die Mediziner zu solchen Gedächtnislücken. Zwei Monate durfte Ernsting keinen Sport machen, danach musste er sich langsam wieder zurückkämpfen.

Unterstützt wurde er dabei von seiner Familie und seinen Freunden. Einer von ihnen ist Maximilian Planer. "Max war jeden Tag im Krankenhaus. Aber davon wusste ich nichts", sagt Clemens Ernsting. Die beiden kennen sich seit ihrer Jugend. Sie haben lange Zeit zusammen in einem Zimmer eines Sportgymnasiums in Magdeburg gelebt und saßen gemeinsam in einem Boot.

Irgendwann haben sich ihre Wege getrennt. Max ging nach Dortmund ans Ruderleistungszentrum. Clemens nach Berlin, um Medizin zu studieren. Max schaffte es in den Deutschlandachter, wurde Europameister und Vizeweltmeister. Bei Clemens kam die Ruderkarriere nicht so recht voran.

"In Berlin waren die Wege sehr weit. Ich habe viel Zeit verloren, wenn ich vom Studium zum Rudern wollte. Außerdem hatte ich dort keinen Partner mehr", sagt Ernsting.

150220 Clemens ErstingKluge by Silvia ReimannIm vergangenen Jahr machte er für sich einen Schnitt. Zwei Optionen standen zur Wahl: Alles auf Rudern oder Rudern nur noch als Hobby. Ernsting entschied sich für die erste Option und folgte seinem alten Kumpel Max nach Dortmund. Gemeinsam mit seiner Frau zog er im vergangenen Jahr ins Ruhrgebiet. Vor wenigen Monaten kam zudem Töchterchen Lea zur Welt. Die größte und schönste Veränderung in seinem Leben. Und eine zusätzliche Motivation für seinen Sport.

"Alles auf Angriff" lautete seine Devise vor der aktuellen Saison. "Ich habe lange mit meiner Frau gesprochen. Sie unterstützt mich voll und ganz", sagt er. Ohne diese Unterstützung könnte er sein Pensum nicht halten. Mindestens 20 Stunden in der Woche Training. Dazu Studium und Familie. Kompliziert, aber es funktioniert. Ernstings Attacke auf einen Rollsitz in einem der Boote des DRV ist bisher recht erfolgreich. Beim Langstreckentest Anfang Dezember fuhr er mit seinem derzeitigen Zweierpartner Peter Kluge auf den dritten Platz.

Damit ruderten sich die beiden auch ins Blickfeld von Bundestrainer Ralf Holtmeyer. Für ihn war Ernsting bis zu seinem Wechsel nach Dortmund ein "unbeschriebenes Blatt". Holtmeyer hat den schlaksigen jungen Mann in den wenigen Monaten am Stützpunkt aber schon schätzen gelernt. Ernsting sei sehr diszipliniert und motiviert. Gemeinsam mit Kluge rudere er einen technisch guten Zweier. Allerdings müsse man noch abwarten, was in einem Wettkampf von Ernsting komme, sagt Holtmeyer.

Ernsting selbst plant sein großes Ziel, bei den Olympischen Spielen 2016 dabei zu sein, Schritt für Schritt. "In diesem Jahr geht es für mich darum, mich im A-Bereich zu etablieren", sagt er. Am liebsten natürlich im Achter. Aber er würde auch auf einem Sitz im Vierer oder Zweier Platz nehmen. "Ich will rudern."

150310 ErnstingKluge Sevilla by CODafür nimmt er eine Menge auf sich. Eigentlich geht es mindestens sieben Mal in der Woche aufs Wasser. Auch bei ungemütlichem Wetter. Wenn es regnet oder es nur wenige Grad über null hat. "Dann muss man sich halt entsprechend anziehen. Aber die Hände und die Füße werden bei solchen Bedingungen auf dem Wasser schon schnell kalt", sagt er. Zu den Wassereinheiten kommen noch Krafttraining, Arbeit auf dem Ergometer und Radtraining. Eine echte Schinderei. Aber die liegt ihm. Das sagt zumindest auch sein derzeitiger Partner im Zweier, Peter Kluge. "Clemens zieht alles durch. Bis zum Ende", sagt dieser. Und dann erzählt Kluge von einem Abschlussrennen des Trainingslagers im italienischen Sabaudia zu Beginn des Jahres. Dort habe er den Schlussspurt viel zu früh angesagt. "Ich habe mich vertan. Eigentlich wollte ich mit Clemens gut 200 Meter vor dem Ziel die letzten Körner raushauen", erinnert er sich. Als er aber zum Schlussspurt aufrief, waren es noch 600 Meter. "Clemens hat alles gegeben und sich vollkommen aus dem Leben gehämmert", sagt Kluge. "Ich bin halt ein Arbeitstier, ich gehe immer voll drauf", sagt Ernsting. Dabei weiß er, dass das nicht immer gut ist. Deshalb ist er auch froh, dass er Kluge an seiner Seite hat, der im richtigen Moment auch mal das Tempo rausnimmt.

Für beide hat ein Sitz im Achter oberste Priorität. Der Achter ist das schnellste und erfolgreichste Boot. "Einige Nationen tun sich schwer, acht starke Ruderer zu finden. Sie setzen von vornherein auf die kleineren Boote. Das ist in Deutschland anders. Hier hat der Achter die größte Tradition und das meiste Prestige", sagt Ernsting.

Zu den Konkurrenten zählen jetzt auch die Freunde Max Planer und Clemens Ernsting. Planer war sogar Trauzeuge bei Erstlings Hochzeit. Wenn es um einen Platz im deutschen Flaggschiff geht, spielt das aber keine Rolle für die beiden. Derzeit bereitet sich die gesamte Mannschaft mit 24 Ruderern und zwei Steuerleuten unter der Sonne Spaniens weiter auf die Saison vor. Insgesamt drei Wochen hoch intensives Training.

Und dann kommen bald die Kleinbootmeisterschaften. Mitte April fahren die in diesem Herbst zusammengesetzten Zweier-Paare gegeneinander. Für Bundestrainer Ralf Holtmeyer sind diese Rennen ein wichtiger Test. Die Ergebnisse bilden einen Teil der Entscheidungsgrundlage für die Zusammensetzung des neuen Achters. "Klar ist der Druck groß. Aber Peter Kluge und ich haben in den vergangenen Monaten einiges geschafft", sagt Ernsting. Sein Angriff auf die begehrtesten Rollsitze im DRV ist noch nicht beendet.